Arbeitsmarkt/Tarifautonomie stärken

Kay Richert zu TOP 22 „Tarifautonomie stärken“

Kay Richert

In seiner Rede zu TOP 22 (Tarifautonomie stärken) erklärt der arbeitsmarktpolitische Sprecher der FDP-Landtagsfraktion, Kay Richert:

„In den ersten 20 Artikeln des Grundgesetzes stehen die Bürger- und die Menschenrechte, sie bilden quasi die Wertegrundlage unserer freiheitlichen Gesellschaft. Da stehen viele wichtige Sachen drin, ohne die wir uns unsere Gesellschaft gar nicht vorstellen können: Freizügigkeit, Berufsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, das Recht auf freie Entfaltung und körperliche Unversehrtheit. Bei all diesen Rechten geht das Grundgesetz davon aus, dass der Bürger selbst entscheiden kann und soll, wo er wohnen, mit wem er sich treffen, was er sagen und wie er selig werden will.

Artikel 9 GG garantiert die Vereinigungsfreiheit. Jede und jeder Deutsche hat das Recht, mit anderen eine Gesellschaft oder eine Vereinigung zu gründen – oder sich auch dagegen zu entscheiden. Der Staat darf hier nur unter ganz restriktiven Bedingungen mitmischen. Eine besondere Form der Vereinigungsfreiheit ist in Absatz 3 normiert, das ist die Tarifautonomie. Und auch hier soll ausdrücklich ‚jedermann‘ entscheiden; oder anders: der Staat soll die Finger von der Tarifautonomie lassen. Das Prinzip der Tarifautonomie hat Deutschland sehr gut getan. Starke Gewerkschaften und Arbeitgeber konnten flexibel agieren, konnten auf Besonderheiten reagieren und so das Beste für Unternehmen und Beschäftigte herausholen. Die Interessen beider Seiten wurden abgewogen, keine Seite kam zu kurz, niemand konnte die Überhand gewinnen. Große Ungerechtigkeiten konnten so nicht passieren. Die Tarifautonomie war einer der Motoren des Wirtschaftswunders und ist über all die Jahre wichtig geblieben für den großen Erfolg unserer Unternehmen. 

Damit dieses gute System funktioniert, sind starke Gewerkschaften erforderlich. Und da haben Sie ja einen richtigen Punkt aufgegriffen: Seit den 1990er Jahren ist die Bindung an Gewerkschaften kontinuierlich zurückgegangen. Ich unterstütze Ihren Gedanken, die Arbeits- und Wirtschaftskoalitionen zu stärken. Aber ich bezweifle, dass Ihr Weg der richtige ist. Es gibt anerkanntermaßen zwei Parameter, die eventuell die Relevanz tariflicher Bindung erhöhen könnten. Zum einen ist das die Stärkung des Tarifvertrags als Institut. Das könnte beispielsweise erreicht werden durch die Senkung der Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen oder die Möglichkeit, branchenspezifische Standards zu bestimmen und verbindlich zu machen. Genau das unterstützen Sie in Ihrem Antrag. Genau das ist 2014 mit dem Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie und durch Änderung des Tarifvertragsgesetzes auch schon passiert. Können Sie feststellen, dass diese Veränderungen den erwünschten Erfolg gebracht haben?

Ihre Antwort kann nur ‚nein‘ sein. Und da frage ich mich, warum Sie glauben, eine Wiederholung der Fehler von 2014 würde jetzt irgendwelche Verbesserungen bringen.

Die zweite Möglichkeit ist: Die Tarifpartner müssen wieder mehr Mitglieder gewinnen, sie müssen wieder eine relevante Größe erreichen. In meinen Augen kann nur das der Schlüssel sein, denn: Tarifverträge müssen auch legitimiert sein. Und legitimiert werden Tarifverträge dadurch, dass sie von allen, zumindest aber von der Mehrzahl der Vertragspartner geschlossen werden. Oder anders ausgedrückt: Dass sie von Verbänden geschlossen wurden, die die Mehrzahl der Arbeitnehmer und Arbeitgeber als Mitglieder vertreten. Die Gewerkschaften müssen sich hier fragen, warum sie nicht mehr attraktiv für die Arbeitnehmer sind. Warum sind Männer mehr organisiert, Frauen weniger? Warum sind Ältere mehr organisiert, Jüngere weniger? Warum organisieren sich Teilzeitbeschäftigte nicht? Warum glauben die Arbeitnehmer, dass Gewerkschaften ihre Probleme nicht lösen? Diese Hausaufgaben können wir den Gewerkschaften nicht abnehmen. Und ich finde es ebenfalls nicht richtig, die schwindende Legitimation aufgrund schwindender Mitgliederzahlen durch Verstaatlichung des Tarifgeschehens zu kompensieren.

Die Koalitionsfreiheit – auch im Bereich der Tarifautonomie – funktioniert in beide Richtungen: Man darf sich dafür entscheiden, sich zu organisieren. Man darf sich aber auch dafür entscheiden, sich nicht zu organisieren. Die Entscheidung vieler Arbeitnehmer, sich keiner Gewerkschaft anzuschließen, darf nicht durch staatlichen Druck ausgehebelt werden – Arbeitnehmer müssen einen Sinn darin sehen, einer Gewerkschaft beizutreten. Was ist mit dem Bereich des anderen Sozialpartners, dem Arbeitgeber? Arbeitgeber können Mitglieder eines Arbeitgeberverbandes sein und sich trotzdem ohne Tarifbindung stellen lassen. Das heißt, sie schließen die Anwendung der Tarifverträge dieses Verbandes aus. Man kann sicherlich darüber streiten, ob das dem Sinn der Tarifpartnerschaft entspricht. Ansonsten gilt heute wie vor hundert Jahren: Der Organisationsgrad der Arbeitgeber folgt dem der Arbeitnehmer oder mit anderen Worten: Starke Gewerkschaften erzeugen zwangsläufig mehr Mitglieder in den Arbeitgeberverbänden.

Der Beschluss 212/19 des Bundesrats schlägt die Betrachtung mehrerer Handlungsansätze vor, um eine Stärkung der tariflichen Ordnung unter Wahrung der Tarifautonomie zu erreichen; unter anderem sind dies die Verbesserung der Rahmenbedingungen des Verfahrens zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen oder die Sicherung der Datenlage in Bezug auf die sogenannte ‚überwiegende Bedeutung‘ eines Tarifvertrags. Wir von der FDP unterstützen die Zielsetzung dieses Beschlusses ebenso wie das Ziel, die Tarifautonomie zu stärken. Im Einzelnen bin ich auf die Ergebnisse und Vorschläge gespannt.

In Ihrer Begründung beziehen Sie sich auf aktuelle Studien der Hans-Böckler-Stiftung; ich nehme an, sie meinen damit den Aufsatz von Martin Franzen aus 2018. Der macht dort ziemlich revolutionäre, aber auch ambivalente steuerrechtliche Vorschläge. Aber er sagt auch: ‚Die Tarifautonomie ist eine staatsferne Veranstaltung und lebt von der Selbsthilfe der Betroffenen.‘ Genau so ist es.“

Es gilt das gesprochene Wort!